an 62jährige
Hallo liebe 62-Jährige, danke, dass du mir schreibst und mir Mut machst. Ich habe dir zwischendurch schonmal geschrieben, aber es scheint irgendwie verloren gegangen zu sein. Keine Ahnung. Ich versuchs einfach nochmal: Also, meine Mutter hat sich in der Zwischenzeit etwas über Borderline informiert und versteht mich jetzt auch ein wenig besser, wir streiten immer noch, aber wir sind ein kleines Stück vorangekommen. Ich möchte jetzt doch in Therapie gehen, das ist halt die Veränderung, die zur Zeit möglich ist, und kann ja eigentlich nur besser werden; ich muss mich da noch mit dem Jugendamt in Verbindung setzen usw. Wenigstens hat meine Mutter darauf positiv reagiert. Es wäre mir zwar egal und naja - ein wirklich gewichtiges Argument dagegen kann sie wohl kaum finden, um ehrlich zu sein, ein kleines bisschen hilfreich ist das allerdings schon. Aber ich habe nicht das Gefühl, jemanden zu haben, der mich stützt, also greife ich halt aufs Altbewährte zurück; hab mich schon wieder geritzt und bin jeden Tag heftig bedröhnt, und das auch in der Schule. Ich kann mich kaum noch aufraffen, da ohne Drogen hinzugehen, mir fehlt einfach der Antrieb, irgendwas zu tun. Nachmittags und abends fühle ich mich leer und ausgelaugt und nur die Aussicht auf mehr Pillen morgen lässt mich das überstehen. Im Kopf baue ich wohl bald echt ab, wenn ich nicht aufhöre, ich bin unkonzentriert und das Gedächtnis streikt, zumindest wenn ich nüchtern bin, dann kann ich keinen Gedanken mehr zu Ende denken, wenn er mich nur ein bisschen stresst... ich weiß nicht, wie ich das beschreiben soll, es ist so, als wäre da eine hohe, dicke Mauer in meinem Kopf, die jeden nervigen Gedanken abblockt und nicht durchlässt. Früher, wo ich eh vor allem, was mir unangenehm war, abgehauen bin, war mir das recht so, jetzt störts aber enorm. Trotzdem nehme ich die Pillen weiter, weil ich mich einfach viel besser und selbstbewusster fühle, viel mehr Energie habe, wenn ich high bin, ich habe das Gefühl, alles klappt besser und ohne bin ich nichts. Heroin vermisse ich auch unglaublich, aber zum Glück geht das ganze Geld für die Pillen drauf, obwohl ich echt nicht mehr weiß, was schlimmer ist. Wenns so weitergeht, dauert das auch mit den Pillen nicht mehr lange, bis ein alter Bekannter, mit dem ich vor einem Jahr schon eine äußerst unangenhme 3-4-tägige Begegnung hatte, wieder an meine Tür klopft, ich bin abends schon wieder etwas unruhig und morgens zittere ich ein bisschen. Ich hab echt keinen Bock, dann vielleicht auch noch in die Entgiftung zu müssen, aber wenn ich jetzt aufhöre, geht es mir noch viel schlechter. Keine Ahnung, was ich machen soll. Naja... was deinen Sohn angeht, kann ich dir lediglich zurückgeben, was du mir gesagt hast: Helfen kann dir nur die Zeit. Wahrscheinlich kommt man nie ganz darüber hinweg, mach dir nur keine Vorwürfe, versuch es. Ich meine, es gibt da keinen Schuldigen, es ist nicht jeder an seinem Leid (ganz) selbst Schuld aber bestimmt nicht jemand anders allein, da kommen immer viele Faktoren zusammen. Und "fallen lassen" - widerlich. Ich sage nicht, Eltern, die sich um sich selbst kümmern, seien egoistisch, wie man das manchmal hört. Schwachsinn, das ist ihr gutes Recht und einfach nur ihre Pflicht, denn kaputt und am Ende mit seinem Latein kann man sicher niemandem helfen. Aber nicht fallen lassen. Wie kann man sowas sagen? Einmal, als es mir sehr schlecht ging und ich wirklich das Gefühl hatte, habe ich, als mir mal jemand sowas sagte, meine Mutter solle mich mal besser fallen lassen, gefragt, wohin; ich befände mich schon im freien Fall. Wie schwer es ist, einen Mittelweg zwischen übertriebener Fürsorge bis hin zu Panik und ständiger Kontrolle und Überwachung sowie einem sich komplett abschalten und ausklinken zu finden, werde ich wohl erst begreifen, wenn ich selbst Kinder habe, d. h. wenn sie dann Drogenprobleme hätten. Ich wünsche es mir nicht, aber ich würde von Anfang an vieles anders machen als meine Mutter... Alles Liebe, V.
Substanzen
- Heroin
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